Laufen, bis der Körper streikt – Tag 9: Von Tui nach Redondela

Redondela

Eins der wenigen Fotos, die ich gemacht habe an diesem Tag. War ja auch keine Zeit für mehr…

Fast 30 und immer noch keinen Deut schlauer. So oder so ähnlich könnte die Quintessenz des heutigen Tages aussehen. Total dämlich wäre eine weitere Möglichkeit. Heute bin ich gut 35 Kilometer in sieben Stunden gelaufen. Inklusive Pausen. Und jetzt? Jetzt kann ich mich nicht mehr bewegen. Na toll! Aber zum Anfang. Eigentlich fing es nämlich damit an, dass ich nicht alleine laufen wollte.

Ich habe die Wahl: Entweder laufe ich 23 Kilometer bis nach Mos oder ich hänge noch einmal 10 dran und laufe bis Redondela. Hmmm. Die 30 ist für mich eine magische Marke – alles, was darüber liegt, finde ich wirklich SEHR weit. Ich schließe mich ein paar Mitpilgern an und nehme mir vor, mich unterwegs zu entscheiden. Es ist lustig, vom Sehen kenne ich sie alle: Alfonso und Wu, die mich gestern bei der zweiten Hundebegegnung „gerettet“ haben, José, der Kolumbianer, und Sally. Morgens um 7 Uhr starten wir. Dank der neuen, alten Uhrzeit ist es hier genauso stockfinster wie gestern in Portugal um 6 Uhr. Egal. Wir haben Stirnlampen und die Intelligenz der Masse. Wir werden uns nicht verlaufen.

In der ersten Stunde gibt man nicht auf

Das Tempo ist sportlich. Alfonso, Anfang 30 und Sportlehrer aus Madrid, legt eine Geschwindigkeit vor, die mich schnaufen lässt. Aber zumindest durch die Dunkelheit will ich noch in Begleitung laufen.  Und aufgeben in der ersten Stunde? Kommt nicht in Frage! Also rennen wir durch die Dämmerung. Mit langen Schritten durchpflüge ich die Landschaft, was links und rechts neben mir ist, bekomme ich kaum mit.  Es geht abseits der Straße durch Waldstücke und Hohlwege. Stets bergauf, bergab. Das Tempo bleibt gleich. Schnell. Nach etwa zwei Stunden habe ich keine Lust mehr. Ich will eine Pause und einen Kaffee. Ich werfe einen Blick in meinen Pilgerführer um herauszufinden, ob bald eine Bar kommt. Kommt sie, ist auch gar nicht mehr weit. Jedenfalls gemessen an dem, was schon hinter uns liegt. Zwölf Kilometer. Heidewitzka! Ja, genau so fühle ich mich auch: Als hätte ich zwölf Kilometer in kanpp zwei Stunden gemacht. Wahnsinn. Wir finden eine Bar, die ein wenig abseits des Wegs liegt und decken uns mit Bocadillos und Käse ein. Alfonso tänzelt schon jetzt ganz nervös herum. Mit Müh und Not können Sally und ich eine weitere Zigarettenlänge Pause herausschlagen. Alfonso schmollt jetzt ein wenig. Egal. Es geht weiter.

Feilschen um die Pausen-Minuten

Nach kurzer Zeit schon erreichen wir eine Wegkreuzung. An diesem Punkt bin ich einmal mehr froh, so einen ausführlichen Wanderführer dabei zu haben. Im schlauen Büchlein weist Raimund Joos auf Manipulierungsversuche am Wegesrand hin. Und tatsächlich: Die gelben Pfeile nach links sind übersprüht, stattdessen weisen schwarze geradeaus. Mit ein wenig Überredungskunst gelingt es mir unsere internationale Gruppe davon zu überzeugen, doch links abzubiegen. Zum Glück. Geradeaus geht es direkt ins Industriegebiet von O Porriño. Wir jedoch wandern entlang eines kleinen Bachlaufs fußfreundlich über einen Trampelpfad. Das ist zwar ein Umweg von etwas mehr als einem Kilometer, aber darauf kommt es bei der Gesamtlänge der Strecke eh nicht mehr an. Die Stadt ist von Industrie geprägt. Hier ist es trubelig, die Bürgersteige sind schmal und die Autos laut. Bis nach Mos bleibt es es. Stets laufen wir an Straßen entlang und müssen beim Überqueren darauf Acht geben, dass wir nicht den Autos und Lastwagen in die Quere kommen. Nach einer knappen Stunde haben wir Mos erreicht. Glücklicherweise braucht Alfonso Wassernachschub, also kehren wir in einer Bar ein. Direkt daneben liegt die Herberge von Mos. Von hier aus starten viele Pilger nach Redondela. Zumindest diejenigen, die es ein wenig ruhiger angehen, als wir. Es sind nur noch zehn Kilometer. Unfassbar, wir haben bereits mehr als 20 Kilometer bewältigt. Mich überkommt eine Mischung aus Faszination und Stolz. Aber auch die Erkenntnis, dass es so die nächsten Tage nicht weitergehen soll. Das ist eine Erfahrung, aber mein Weg soll kein Wettrennen sein. Sally und ich trödeln bewusst ein wenig, um die Pause so lang wie möglich auszudehnen. Wu und José haben sich still ihrem Schicksal ergeben. Alfonso pocht auf die Uhr und erzählt was von überfüllten Herbergen. Ja, ja, ist ja gut. Wir gehen ja schon.

Bergauf, bergab durch die Idylle

Von jetzt an führt der Weg wieder durch idyllische Landschaften. Einziger Wermutstropfen: Wir bewältigen Höhenmeter um Höhenmeter. Ich bin langsam aber sicher fertig mit der Welt. Meine Motivation ist im Keller, die Füße tuen mir weh, ich mag nicht mehr. Sally hat sich unterdessen völlig ausgeklinkt und läuft nur noch mit Ohrstöpseln. Ich bin ein wenig neidisch. Alfonso und ich unterhalten uns unterdessen. Mittlerweile sind wir bei der Aufarbeitung des Dritten Reiches versus Aufarbeitung des Franco-Regimes gelandet. Faszinierend: Kaum Luft zum Atmen, aber um auf Diktaturen zu schimpfen reicht es noch. Irgendwann muss ich aber alle mein Kraft zum laufen sparen. Wir trotten jetzt alle still nebeneinander her. Zwischendurch gibt es Kekse zur Motivation. Hält genau bis zum letzten Krümel. Endlich erreichen wir das Ortsschild von Redondela. Erleichterung pur. Doch auch die ist nicht besonders nachhaltig. Spätestens als wir vor der öffentlichen Herberge die Traube an wartenden Pfadfindern sehen, ist die Stimmung wieder im Keller. Die Herberge ist voll. Dabei ist es gerade einmal 14 Uhr. Also weiter ziehen. Nach ein paar Hundert Metern finden wir Obdach in einer privaten Herberge. Es ist alles ein wenig eng, aber für eine Nacht reicht es. Hauptsache angekommen.

Ab jetzt nur noch mit Kniebandage

Jetzt ist erst einmal Wunden lecken angesagt. Der erste Weg führt in die Apotheke: eine Kniebandage muss her. Mein Knie ist hinüber. Zumindest fühlt es sich so an. Für Sally gibt’s noch Schmerztabletten dazu. Zwei Krüppel unter sich. Der zweite Weg führt in die Kneipe. Zur Clara serviert uns der herzliche, zahnlose Kellner Chips und Schinkenbrot. Mein vegetarisches Ich verdreht kurz die Augen, hat aber auch Hunger und ist deshalb gnädig.

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Sally (l.) und ich auf dem Balkon der Herberge. Einfach nur glücklich, angekommen zu sein.

Zurück in der Herberge kochen wir noch schnell was mit den Jungs und sehen dann zu, dass wir ins Bett kommen. Der Tag war einfach viel zu viel. Ich nehme mir fest vor, es morgen ruhiger angehen zu lassen. Der nächste Tag wird ein Frauen-Tag. Die ehrgeizigen Sportler lassen wir vorlaufen.

 

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